Ein persönlicher Rückblick und ein überzeugter Aufbruch

Einstieg 

von Natacha Dagneaud (Mannheim)

Die Stühle sind zurückgerückt, Kartons stapeln sich. Auf dem Tisch liegen ein paar Notizbücher, als hätten sie sich geweigert, in die Kartons zu schlüpfen. In solchen Momenten spürt man, wie ein Kapitel nicht einfach endet. Haben Sie jemals einen Raum verlassen, der Ihre Handschrift trug? Vielleicht Ihre Studentenwohnung, Ihr Elternhaus, Ihr Arbeitszimmer? Dann kennen Sie diese Stille, in die sich die Geschichten drängen, die Sie dort erlebt haben. Das Loft von Séissmo war ein solcher Raum. Hier haben wir über zwei Jahrzehnte geforscht, zugehört, ausgewertet und geordnet. Heute geht es nicht um Abschiedsschmerz, sondern um klare Haltung. Es ist kein wehmütiger Schritt. Kein Ende, das das Bisherige auslöscht. Es ist eher ein Umsortieren der Bücher im Regal. Ich nehme Sie in meine Gedanken mit.

Was wirklich endet 

Was endet, ist die tägliche Maschine, die Taktung von Briefings, Feldphasen und Auswertungen. Ich schließe den Marktforschungsbetrieb von Séissmo nicht mit einem Feuerwerk - eher so, wie man ein gutes Buch zu Ende liest. Die letzte Seite wird nicht herausgerissen (oder zuerst gelesen), sie wird bewusst umgeschlagen. Verträge laufen aus, offene Zusagen werden erfüllt, Fragen werden beantwortet. Ich rufe an, statt nur zu schreiben. Ich bin nicht müde oder der Marktforschung überdrüssig.

Aber ich habe in den Jahren gelernt, dass man Vertrauen nicht am Start gewinnt, sondern im Abschied beweist. Der Tag, an dem Sie sagen könnten, “schade, dass es endet”, soll auch der Tag sein, an dem Sie sagen können, “es ist gut so, wie es endet”. Ich will, dass Sie sich erinnern, wie wir gearbeitet haben. Sorgfältig, neugierig, mit dem Blick auf das Wesentliche. Und ich will, dass dieser Übergang das bestätigt. Ein sauberer Strich unter tiefgründiger Arbeit. Darauf kommt es mir an, wenn ich die Tür hinter Séissmo zuziehe und das Licht noch einmal prüfend ausknipse.

Was bleibt 

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Bild von Rolf Dobler
Die vielen bunten Tassen in der Kaffeeküche, die gusseisernen tragenden Säulen, die Klinkerfassade des alten Druckereigebäudes. Das alles lassen wir hinter uns. Räumlich ungebunden bleibt Séissmo allerdings als Wissensspeicher erhalten. Die Reports verstauben nicht im Keller. Unsere Grundlagenforschung Séissmograph bleibt zugänglich, genauso wie die Methoden, die Interviewleitfäden, die kleinen Notizen am Rand, die einst eine große Erkenntnis angestoßen haben. Ich habe mich früh dazu entschieden, dass unser Wissen nicht in Kisten gehört. Das Portal bleibt offen, damit Sie lesen, prüfen und weiterdenken können. Vielleicht entdecken Sie eine alte Fragestellung neu. Vielleicht wird ein Absatz zum Anstoß für ein eigenes Projekt. Mich erfreut der Gedanke, dass unsere Arbeit weiterwirkt. Wissen ist kein Andenken, Wissen ist ein Werkzeug. Und Werkzeuge legt man nicht in die Vitrine, man reicht sie weiter.

Warum dieser Schritt Sinn ergibt

Ich habe lange genug im Maschinenraum der Marken gesessen, um die Räder zu kennen, die sich dort so drehen. Es war lehrreich, es war mitunter glanzvoll, aber der Lack hat mich nie so interessiert wie das Holz darunter. Mein innerer Kompass hat schon eine Weile sanft, aber hartnäckig nach Osten gezeigt. Meine Erfahrungen aus 30 Jahren Marktforschung wecken in mir das Bedürfnis, mit meinen geopolitischen Wurzeln gesellschaftlich relevante Forschung zu betreiben.

Wissen Sie: Die vielen Jahre internationaler Projekte, meine Nähe zu Georgien und zur Ukraine und vor allem die Zusammenarbeit mit Oksana, die aus der Ukraine fliehen musste, haben meinen Blick auf Europa nachhaltig verändert. Mir wurde deutlich, dass sich die demokratische Sicherheits- und Gesellschaftsordnung tiefgreifend verändert und neu austarieren wird – mit Folgen bis in den Alltag von Menschen und Institutionen. Daraus erwächst für mich eine Verantwortung: dort zu arbeiten, wo sorgfältiges Zuhören, das Erfassen von Einstellungen und Sorgen und ihre sachliche Einordnung zu tragfähigen öffentlichen Entscheidungen beitragen. Genau dafür möchte ich meine Erfahrung einsetzen.

Es gibt Momente im Berufsleben, da merkt man, dass der eigene Takt nicht mehr mit der Musik des Raums übereinstimmt. Man kann lauter werden, um zu übertönen, oder man kann den Raum wechseln. Ich wechsle den Raum. Mit Dankbarkeit für das, was war, und Demut vor dem, was kommt. Die Entscheidung fühlt sich nicht nach Absprung an, sondern nach Ankunft. Vielleicht ist es wie beim Fluss, der die Schleifen hinter sich lässt und sich ruhig in ein Delta entfaltet. Die Richtung ist nicht neu, nur die Breite.

Die Schule der letzten Jahrzehnte 

Drei Jahrzehnte Arbeit formen einen Menschen wie Wasser den Stein. Bei Séissmo waren es 24 Jahre im offiziellen Kleid und davor viele Jahre als Lehrling der eigenen Neugier. Neue Erkenntnisse entstehen, wenn man Hypothesen überprüft, Begriffe gemeinsam klärt und Daten so dokumentiert, dass Dritte sie nachverfolgen können. Metaphern, Gesten und Schweigen: All das sind wichtige Daten, kein Beiwerk. Qualität heißt, den Kontext mitzudenken und Schlüsse offen zu belegen.

Hochschulen und Forschungseinrichtungen wie die Hochschule Pforzheim waren für mich ein zweiter Resonanzraum. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen, und den Studierenden. Sie haben mich erinnert, dass Neugier keine Altersgrenze kennt.

An Grenzen lernt man, wie wichtig Brücken sind. Und in den zahlreichen Projekten lernte ich, dass Präzision kein Luxus ist, sondern Respekt am Menschen. Diese Schule trage ich in die nächste Aufgabe, so wie man ein vertrautes Werkzeug in eine andere Werkstatt mitnimmt.

Die Menschen hinter der Leistung 

Ich möchte an dieser Stelle Menschen sichtbar machen, ohne die Séissmo nie das gewesen wäre, was es war. Darum sage ich Danke an Sharon De Fazio. Sie war in den letzten Jahren meine rechte Hand: zuverlässig, vorausschauend, immer da, wenn es knifflig wurde. Auf sie konnte ich mich fachlich und menschlich jederzeit verlassen. Oksana Bandurovych hat uns mit ihrem scharfen analytischen Blick getragen. Sie arbeitete akribisch und ausdauernd, und traf in der Auswertung genau den Punkt. Auf ihre Präzision konnte ich mich jederzeit stützen. Thies Ohler hielt viele Bälle in der Luft, ohne einen fallen zu lassen. Er war Teamplayer, Ideengeber und ein wahres Schweizer Taschenmesser: loyal, pragmatisch, mit Unternehmergeist. Sophie Leme Almeida brachte ein seltenes Zusammenspiel aus Ruhe und Offenheit mit. Sie hörte zu, ohne zu werten, und holte aus jedem Gespräch das Wesentliche heraus. Ihr Gespür für Zwischentöne machte unsere Arbeit spürbar besser. Alrik Schulze hat für uns die Brücke zur GenZ gebildet und dank Mehrsprachigkeit, psychologischer Expertise sowie Marktverständnis unsere Auswertungen gestärkt.
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Und ich danke all denen, die vor ihnen bei Séissmo mitgewirkt haben für ihre Kreativität, ihren Einsatz und die Geduld zu lernen und Wissen weiterzugeben. Séissmo war immer auch eine Ausbildungsstätte, ein Ort der Begegnung. Wir haben unterschiedliche Sprachen gesprochen. Unsere Biografien und Perspektiven haben uns gegenseitig geschärft. Es war der gelebte Kulturaustausch im Team, der uns als Motor unserer Arbeit vorangetrieben hat. Dank dieser großartigen Menschen hinterlässt Séissmo bleibende Spuren.

Der Blick nach vorn 

Ich schaue nach vorn wie jemand, der am frühen Morgen das Fenster öffnet. Und dort sehe ich bereits das nächste Kapitel vor mir: Im operativen NATO Hauptquartier JFC Brunssum werde ich mein Handwerk dort einsetzen, wo gesellschaftliche Stabilität und demokratische Werte unmittelbar betroffen sind. Es ist eine Aufgabe, die Sorgfalt verlangt und Geduld belohnt. Der Takt ist anders als im Institutsalltag, die Verantwortung dafür umso spürbarer. Ich glaube, dass wir Zeiten erleben, in denen gutes Zuhören zu Infrastruktur wird. Aus Notwendigkeit.

Wenn Sie mich fragen, was ich mir wünsche, dann dies: Nutzen Sie, was wir gebaut haben, als Werkzeugkasten, nicht als Museum. Schicken Sie den Link weiter, markieren Sie Stellen, die Sie im Team diskutieren möchten. Wenn daraus Gespräche entstehen, die Klarheit schaffen, hat das Portal seinen Zweck erfüllt.

Schlussbild 

Séissmo bleibt als Echo aus Wissen, das man anfassen kann. Manche Kapitel schließen sich, damit wir die Bedeutung dahinter lesen können. Ich verneige mich vor den Menschen, die diese Jahre geformt haben, und hebe den Kopf für das, was in Europa und der freien demokratischen Welt zu hören ist.